Die „Pilkentafel“ als eines von acht freien Theatern in Schleswig-Holstein ist über die Grenzen des Landes hinaus bekannt. Weniger bekannt, selbst bei Einheimischen , ist die Straße mit identischem Namen: Seit Menschengedenken ist die Pilkentafel eine Gasse im Flensburger Kapitänsviertel. Dem Haus Nummer zwei sieht man seine lange Geschichte an. Im Hinterhof erblickt der Besucher sofort das große Tor mit dem roten P. Wenn er die zur Spielstätte umgebaute Schlosserwerkstatt links liegen lässt und im Anbau die steile Treppe erklimmt, kann er im Büro das „Gesicht“ der „Pilkentafel“ treffen: Elisabeth Bohde.

Sie tritt in der Öffentlichkeit mehr in Erscheinung als ihr Mann Torsten Schütte, der genauso die Leiter-Funktion innehat, bei den eher repräsentativen Aufgaben aber seiner Frau den Vortritt lässt. Zum Beispiel in Presseberichten, wenn vom „einzig freien Theater Flensburgs auf professionellem Niveau“ die Rede ist. Aber ob dieses Urteil wirklich als Kompliment bei der „Pilkentafel“ ankommt? Elisabeth Bohde schwirren immer noch die Grundsätze eines französischen Dozenten durch den Kopf. „Das Theater ist kurz vor der Professionalisierung am intensivsten“, erklärt sie. „Wenn Zuschauer und Künstler durch unterschiedliche Eingänge kommen, dann nimmt die Kommunikation untereinander ab.“ Überspitzt gesagt: Das Theater droht zur kulturellen Dienstleistung zu werden. Man merkt sofort, Elisabeth Bohde ist eine „Überzeugungstäterin“, ist ein personifiziertes Theater. Sie pocht auf die Selbstbestimmung der Künstler, die sich aktiv einbringen und nicht stupide nach der Nase des Regisseurs tanzen sollen. „Ein Stück ist nie eine abgeschlossene Produktion“, betont sie. „Nach jeder Aufführung gibt es Korrekturen und Verbesserungen.“
Sie ist Jahrgang 1957, gebürtige Flensburgerin. Als junge Frau deutete vieles darauf hin, dass sie in die Ferne schweifen würde, aber recht schnell kehrte sie in ihre Heimatstadt zurück. Sie wuchs auf der Westlichen Höhe auf. Das Elternhaus stand im Hans-Christian-Andersen-Weg. Man könnte fast meinen, der weltberühmte dänische Dichter würde wie ein literarischer Schirmherr über die Familie wirken. Der Vater war Inhaber der alteingesessenen Flensburger Buchhandlung „Westphalen“, die Mutter gelernte Buchhändlerin. Die Literatur wurde also in der Familie großgeschrieben. Die Tochter besuchte zunächst die Waldschule, dann das Alte Gymnasium, das in den späten 60er Jahren noch einen „reaktionären“ Ruf hatte. Es war nicht lange her, dass diese Bildungsstätte nur den Jungen der „bürgerlichen Elite“ offenstand. Inzwischen wurden auch Mädchen unterrichtet – zum Teil aber von Lehrern, die einer anderen Epoche entstiegen schienen.
Ganz anders war da Walter Ruch. Der Oberspielleiter des Flensburger Stadttheaters inspirierte am Alten Gymnasium eine Theater-AG. Mit 13 Jahren war Elisabeth Bohde erstmals von der darstellenden Kunst begeistert. Zweimal die Woche wurde geprobt. Die Schüler wurden mit anspruchsvollen Stücken über die afrikanischen Kolonien Portugals oder mit „Der Belagerungszustand“ (Albert Camus) konfrontiert. Alles hatte Hand und Fuß – bis der ambitionierte Kursleiter aus beruflichen Gründen Flensburg verließ. Elisabeth Bohde war nun häufiger auf dem Scheersberg, der damals in der Kultur-Szene sehr anerkannt war, und beteiligte sich an einigen internationalen Work-Shops.
Zu ihrem Leidwesen spielte das Theater während der gymnasialen Oberstufe keine Rolle. Deutsch als Leistungskurs und die Literatur als Domäne fingen diesen Verlust aber auf. „Ich habe alle im Unterricht besprochenen Bücher gelesen, ebenso weitere Werke der behandelten Autoren“, sagt sie. Etwas exotischer war ihr zweites Leistungskurs-Fach: In Physik war sie allein unter Jungen. Nach Formeln zu rechnen war nicht ihr Ding. Die philosophischen Ansätze der grundsätzlichen Existenz, der Relativitätstheorie und des Urknalls, faszinierten sie aber durchaus.
1976, nach dem Abitur, führten zufällige Faktoren und Konstellationen nach Aix-en-Provence. Es lockten nicht die Sonne der Mittelmeerregion, sondern der kulturelle Standard und das breitgefächerte Studium rund um das Theater und die darstellenden Künste. „Man konnte im Prinzip tun, was man wollte“, staunt Elisabeth Bohde noch immer. „Diese Freiwilligkeit war gleichermaßen praktisch wie schwierig.“ Die Studenten konnten sich mit Improvisationstheater und zeitgenössischen Tänzen beschäftigen. Es war aber auch denkbar, sich dem Basketball-Team anzuschließen und eine künstlerisch ausgerichtete Abhandlung darüber zu verfassen. Nach drei Jahren hatte die Norddeutsche ein Universitätsdiplom – ohne Zensuren und Abschluss-Prüfung.

Allein mit Ophelia 1985

Von Frankreich ging es nach Franken. In Nürnberg forderte Hermann Glaser, der Schul- und Kulturdezernent, ein „Bürgerrecht Kultur“ in der demokratischen Gesellschaft ein. Ein interessantes Pflaster, fand Elisabeth Bohde und bewarb sich. Eine feste Stelle gab es allerdings nicht. Vielmehr wurden ihr als freiberufliche Theater-Pädagogin ein Netzwerk und ein Drei-Monats-Honorar als Starthilfe angeboten. Auf Spielplätzen mit Kindern, in Obdachlosen-Unterkünften und mit Studenten – die Bandbreite der Projekte war erstaunlich und kraftraubend. „Ich hätte mir Schwerpunkte bilden müssen“, verrät Elisabeth Bohde. Dann war sie schwanger mit Tochter Anna und kehrte zurück zu ihrer Mutter nach Flensburg.
Dort übernahm sie einige Kurse in einer Jugendbildungseinrichtung – bis eine Entscheidung ihrer Mutter alles veränderte. „Das war wohl eine Mischung aus Großzügigkeit, Bevormundung und Interesse“, beschreibt Elisabeth Bohde den Kauf eines Wohnhauses in der Pilkentafel 2. In der ersten Etage existierte ein größerer Raum: Er hatte keine tragenden Wände und eignete sich für Proben und spezielle kulturelle Angebote. Das waren die Voraussetzungen, um 1983 das freie Theater „Pilkentafel“ zu gründen. Ein Spaziergang war dieser Schritt gewiss nicht. „Es war hart, mit 23 Jahren als junge Mutter und ohne klare Vorstellungen, wie so etwas zu organisieren wäre, ein solches Haus zu leiten“, erinnert sich Elisabeth Bohde. Rollenbesetzungen, Öffentlichkeitsarbeit und Steuererklärungen gehörten plötzlich zum Tagesgeschäft.
Neben Work-Shops und Wochenend-Seminaren prägte eine 90-minütige Inszenierung mit zwei Abiturienten die Stunde Null. „Wir werden uns leidenschaftlich lieben“ wurde deutschlandweit insgesamt 80 Mal aufgeführt. Es war eine „harte Nummer“, mit einem Kleinbus mehrere Tage am Stück unterwegs zu sein, die Kulisse ständig auf- und abzubauen, erst zu später Stunde eine Pizza zu verschlingen und bei anderen Leuten zu übernachten – aus Kostengründen. Die Flensburger landeten quer durch die Republik in Konzertsälen, Frauenzentren und Kulturhöfen. Ins Vertragswerk wurde schnell die Bedingung „gesäuberter Raum“ integriert. Bisweilen hatten Rock-Konzerte am Abend zuvor für verqualmte und verdreckte Nachlässe gesorgt.
Aber alle Achtung: Mit einem Schlag war die „Pilkentafel“ in vieler Munde, eine Einladung zu einem Theatertreffen in Berlin bereits logisch. „Erst als wir da waren, registrierten wir, dass dort alle großen Namen des deutschen Theaters anwesend waren“, schmunzelt Elisabeth Bohde. „Unsere Gagen gingen allerdings dafür drauf, dass wir mit den anderen in die teuren Restaurants gingen.“ 1985 folgte das Stück „Leidenschaft als Möglichkeit“, das zwei besondere Meilensteine setzte. Zum einen floss erstmals eine finanzielle Unterstützung seitens der Stadt Flensburg, zum anderen spielte erstmals Torsten Schütte mit. Er sollte der Mann und Partner der Theater-Gründerin werden. Die „Pilkentafel“ entdeckte die Kinder als neue Zielgruppe. Das preisgekrönte Stück „Waschtag“ mutierte ab 1994 zum Renner. In jener Zeit kamen auch die beiden Kinder des Theater-Paares zur Welt, was durchaus zu Gewissensbissen führte. „Wir fuhren weit, um vor Kindern zu spielen“, erklärt Elisabeth Bohde. „Andererseits mussten wir stets schauen, wo wir unsere Kinder unterbringen.“ Die Zeit auf der Autobahn, beim Aufbau an den Spielorten fraß am Privatleben. Die Lösung fand sich 1998 auf dem eigenen Grundstück. Eine Schlosserwerkstatt verwandelte sich in eine Spielstätte, eine freiwerdende Wohnung zum Büro. Gleichzeitig wurde die „Theaterwerkstatt Pilkentafel gGmbH“ aus der Taufe gehoben – mit den beiden Leitern als Gesellschafter.

Damit war das freie Theater fest in Flensburg ansässig geworden – in der Provinz, abseits der großen Kunstszene. Allerdings sieht Elisabeth Bohde in der Ruhe der Peripherie auch einige Vorteile. „In der Produktionsphase sollte man sich nicht zu sehr beeinflussen lassen, es ist dann nicht mehr das Eigene“, betont sie und beobachtet, dass sich in den großen Städten das Publikum oft nur aus Künstlern und Literaturwissenschaftlern zusammensetze. Die Folge: eine Blase, in der man sich nur noch auf die Arbeit des Kollegen bezieht. „Dagegen“, sagt die Theater-Chefin, „werden wir hier oft von Leuten angesprochen, die wir persönlich gar nicht kennen.“ Ein direktes Feedback von unabhängiger Seite.

In Deutschland war die Flensburger „Pilkentafel“ in den letzten beiden Dekaden kaum noch unterwegs, dafür bescherten einige Improvisations-Kinderstücke etliche Einladungen auf internationale Festivals. Indien, Südafrika, Mexiko oder Südkorea – nach und nach wurde fast die gesamte Welt bereist. Während sich Abstecher in die USA oder nach Kanada finanziell durchaus lohnten, reizte sonst eher der Erfahrungsaustausch. Oft schlossen sich an die offiziellen Veranstaltungen noch Projekte an. In Simbabwe führten die Afrikaner Regie, ließen Torsten Schütte die Bühne fegen und provozierten damit einen enormen Jubel. „Das schwarze Publikum hatte noch nie einen weißen Mann mit einem Besen gesehen“, erzählt Elisabeth Bohde.
Die Reisen brachten neue Inspirationen und Einblicke in andere Kulturen, verliefen aber auch nicht immer problemlos. In Simbabwe wurden die deutschen Gäste in einer sehr bescheidenen Unterkunft untergebracht. Die einladende Männer-Gesangs-Combo hatte deshalb eine Frau gebeten, den europäischen Theaterleuten beim Kochen und Einkaufen zu helfen. Da es im südafrikanischen Land damals keine Geldautomaten gab, lagen viele Dollars im Gepäck. Und plötzlich waren sie gestohlen. Trotz eines klaren Tatverdachts entzündeten sich Verwerfungen und Unklarheiten. Wie sollte dieser Konflikt nur gelöst werden? Ein US-Tanzexperte meinte dann: „Ihr müsst euch entscheiden, ob ihr Freunde bleiben wollt oder nicht.“ Die Flensburger blieben milde. Sie kamen dank einiger Geldspenden der Gastgeber über die Runden. Einige Monate weiter hatten die Sänger aus Simbabwe einen Auftritt bei der „Flensburger Hofkultur“ und brachten die gestohlene Geldsumme mit. „Bei allen Unterschieden in der Mentalität hatten wir bei unseren Reisen immer ein tiefes Gefühl von Freundschaft und Vertrauen wahrgenommen“, berichtet Elisabeth Bohde.
Im Mai 2019 bekam die „Theaterwerkstatt Pilkentafel“ den „Theaterpreis des Bundes“ – als erste schleswig-holsteinische Kulturinstitution überhaupt. Die Jury würdigte, dass Elisabeth Bohde und Torsten Schütte in langen zeitlichen Linien ihre Themen verfolgten, Stadtgeschichte mit Weltgeschichte sowie Gegenwart mit Vergangenheit verknüpften. Im konkreten Fall ging es um den Reichtum Flensburgs, der aus der keineswegs ruhmreichen Kolonialgeschichte resultierte. Zur Vorbereitung der Stücke weilten Elisabeth Bohde und Torsten Schütte auch in Namibia und in der Karibik.

Derzeit ist alles anders. Eine Co-Produktion startete letzten März noch in Hannover, dann fiel an allen Bühnen aufgrund der Corona-Pandemie der Vorhang. Die Flensburger Uraufführung fand erst im September statt. Die Proben für ein neues Stück wurden abgebrochen, eine vorzeitige Sommerpause eingeläutet. Dann folgte ein Comeback, aber nur zwölf der 50 Plätze im Theaterraum durften besetzt werden. „Aber erst ab 30 Personen fühlt es sich wie ein Publikum an“, meint Elisabeth Bohde. Sie selbst engagierte sich in den letzten Monaten viel im Bundesverband „Freie darstellende Künste“. Thema immer wieder: Die schwierige Situation der Kultur-Szene und nötige Förder-Programme.

Es gab zuletzt aber auch Lichtblicke. Die Förderung der Stadt Flensburg wurde erstmals auf eine größere Grundlage gehievt. Techniker und PR-Kraft der „Theaterwerkstatt Pilkentafel“ waren bislang nur junge Menschen auf dem Weg ins Berufsleben. „Nun haben wir zwei sozialversicherungspflichtige Stellen und wollen eine dritte für den Finanzbereich ausschreiben“, erklärt Elisabeth Bohde. Durch Vermietung an junge Gruppen und weitere interessierte Kulturtreibende soll die vorhandene Infrastruktur stärker frequentiert werden. „Wir wünschen uns mehr Eigenständigkeit von uns“, sagen die beiden Gesellschafter. Elisabeth Bohde und Torsten Schütte wollen sich am liebsten nur dem Theater und dem Schauspiel widmen.

Text: Jan Kirschner,
Fotos: Kirschner, privat

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