Die Norderstraße gilt als die Herzkammer der dänischen Minderheit. Christian Dirschauer, einer von vier SSW-Landtagsabgeordneten, hat hier sein Büro. Es ist Teil vom Flensborghus und liegt schräg gegenüber der Dansk Centralbibliotek. An diesem Freitag ist der Politiker nicht in Kiel, sondern vor Ort in seinem Wahlkreis und bespricht mit seiner Mitarbeiterin Berit Erichsen einige Termine. Er winkt durch die Glastür, als der Bote der Stadt zufällig vorbeifährt. Dann ist er bereit für ein ausführliches Gespräch. SSW-Fahne, Danebrog und dänisches Gebäck zieren den weißen Tisch.

Christian Dirschauer ist ein echter Flensburger Kopf – „Flensborg dreng“ würden die Dänen sagen. Er ist 1981 in der Fördestadt geboren und hat einen Familien-Stammbaum, der mit seiner Geburtsstadt lange verzahnt ist. Mütterlicherseits kann man fünf Generationen zurückgehen und stößt auf Adressen in der Apenrader Straße, in der Terrassenstraße oder in Wassersleben.

Namen wie Johannsen, Davidsen oder auch Brummer finden sich noch heute im Familien-Netzwerk, einige engagieren sich auch in den dänischen Vereinen. Der Urgroßvater väterlicherseits landete als Zollbeamter in Flensburg. Er stammte aus der Nähe von Danzig und führte den Namen Dirschauer an der deutsch-dänischen Grenze ein. Die ersten Kindheitserinnerungen des Urenkels sind mit der Bachstraße verknüpft. Die Mutter steckte noch in der Ausbildung, ihr Sohn war oft bei den Großeltern, die im selben Haus lebten. „Das passte sehr gut, da meine Oma eine Tagesmutter war und zwei weitere Kinder betreute“, erzählt Christian Dirschauer.

Mittlere Reife – und was dann?
Jürgensby und die östliche Altstadt bildeten das Umfeld der ersten Jahre – mit dänischem Kindergarten und dänischer Schule. Der Dreikäsehoch spielte kurz Fußball bei DGF Flensborg, tobte aber lieber in Solitüde.
Der Großvater war dort Strandvogt, und als er in Ruhestand ging, bezogen Oma und Opa eine Wohnung in der Solitüder Straße. Der Enkel war oft zu Besuch und oft am Strand. Später – als älterer Schüler – hatte er eine erste kleine Wohnung in direkter Nachbarschaft und jobbte bei einem Supermarkt.

In der Jens-Jessen-Skolen bestand Christian Dirschauer die mittlere Reife. Er sah für sich drei Optionen: zum einen die Duborg-Skolen, das Gymnasium der dänischen Minderheit, zum anderen das Wirtschaftsgymnasium in der Marienallee oder eine Ausbildung bei der Union-Bank. Der Finanzsektor sprach den damals 16-Jährigen am wenigsten an und schloss ihn als erstes aus. „Das Abitur an der Duborg-Skolen hatte einen Nachteil“, verrät er. „Ich hätte nicht drei, sondern noch vier Jahre zur Schule gehen müssen. Dagegen reizte das WG mit Leistungskursfächern wie Wirtschaft und Politik. Beides begann mich, immer mehr zu interessieren.“

Der Einstieg beim SSW
Die Wahl fiel auf die deutschsprachige Schule in der Marienallee. Schöne Noten garnierte das Nebenfach „Dänisch“, andere Begrifflichkeiten – sogar in Mathe – erforderten eine Umstellung. Ebenso der persönliche Umgang in der Bildungsstätte. „Plötzlich wurden die Lehrer nicht mehr geduzt, sondern mit Sie angesprochen“, wunderte sich damals Christian Dirschauer. Am prägendsten war aber kein Pädagoge, sondern ein Mitschüler. Dieser schleppte ihn im Dezember 1997 mit zur SSW-Jugend. Erste politische Aktionen folgten.

Nach dem Abitur im Jahr 2000 leistete der gebürtige Flensburger in seiner Heimatstadt einen Zivildienst: Elf Monate im Wohnheim des Holländerhofs, wo gerade eine erste Senioren-Gruppe aufgebaut worden war. „Vorher dachte ich, dass ich danach ein Lehramt studieren würde, dann schlug mein Herz für den sozialen Bereich“, erzählt er und schmunzelt: „Sozialpädagogik ist es dann doch nicht geworden, da mir in der Flensborg Avis eine Annonce für eine Stadt inspektoren-Ausbildung auffiel.“ Klingt nicht spektakulär, aber weil er aus einer Familie stammt, die in seiner Jugend nicht auf Rosen gebettet war, versprachen ein sofortiges Gehalt und eine Beamten-Laufbahn eine ungeahnte Sicherheit.

Der Start bei der Stadt Flensburg
Zum 1. August 2001 fing Christian Dirschauer tatsächlich bei der Stadt Flensburg an – um sofort für ein Jahr weg zu sein. Für das Grundstudium ging es an die Fachhochschule für Verwaltung in Altenholz. Es war eine verschulte Angelegenheit im Klassenverband. Wohnheim, WG oder private Unterkunft hießen die Optionen – und abends wurde mit den anderen Studenten gefeiert. Das Nordlicht lernte auch seine heutige Frau Meike kennen. Ein geografischer Nachteil: Sie kam aus Lübeck. Angesichts der Distanz war im praktischen Jahr eine Wochenend-Beziehung unvermeidbar.

Christian Dirschauer sammelte nun in Flensburg in der Ausländerbehörde, in der Personalabteilung und im Sozialbereich wertvolle Erfahrungen. Zum Hauptstudium war das junge Paar dann wieder in Altenholz zusammen. Zum 1. August 2004 stieg der Beamte auf Probe in den Dienst der Stadt ein.
Zunächst bewegte sich sein Aufgabenfeld in der allgemeinen Gefahrenabwehr, ehe er im Flensburger Jobcenter viele Jugendliche, die nur wenige Jahre jünger waren, in der beruflichen Findungsphase unterstützte.

Eigenheim und Privatleben in Kauslund
Zu dieser Zeit gab es ein privates Ziel: mit Meike in einer Stadt zusammenleben. Tatsächlich flatterte ein Angebot aus Lübeck ins Haus. Es klang verlockend, fußte aber auf einem befristeten Angestellten-Verhältnis. Das Bauchgefühl pochte abermals auf das Sicherheitsempfinden. Christian Dirschauer sagt ab. Kurz darauf klingelte das Telefon: Der Anrufer meldete sich aus der Flensburger Personalabteilung. „Du Dirschauer, habt ihr immer noch den Wunsch, in einer Stadt zusammen zu leben?“ Nach knapper bejahender Antwort drang eine warme Empfehlung durch die Leitung: „Meike sollte sich ganz schnell in der Liegenschaftsabteilung bewerben.“ Tatsächlich: Zum März 2006 war der Umzug von Lübeck nach Flensburg perfekt.
Christian Dirschauer hatte damals eine kleine Wohnung in der Jürgensgaarder Straße. Die Warmmiete? 350 Euro, heute unvorstellbar. Die zwei Zimmer konnten aber nur eine Übergangslösung sein. Zwei Beamten-Gehälter und der Vater ein gelernter Maurer – das schrie nach einem Eigenheim. Das Paar fand ein Grundstück in Kauslund.

Im Mai 2007 ging es los, vieles lief in Eigenleistung. Fast jedes Wochenende stand Christian Dirschauer auf der Baustelle – als Handlanger. „Ich hatte vorher eher zwei linke Hände“, erzählt er. „In der Bauphase habe ich aber so viel gelernt, dass ich jetzt weit mehr als nur zwei Nägel in die Wand schlagen kann.“
Im Frühjahr 2008 ließ es sich bereits im Erdgeschoss wohnen. Dann wurden Ober- und Dachgeschoss ausgebaut. Mit dem Haus war das Fundament einer Familie gelegt. Die nächste Dekade war privat von einem besonderen Zwei-Jahres-Rhythmus geprägt. 2012 heirateten Christian Dirschauer und seine Meike zunächst standesamtlich in Lübeck, und dann in der Flensburger Ansgarkirche. 2014, 2016 und 2018 wurden die Kinder Jonna, Oke und Liv geboren.

Gewerkschaft und Personalabteilung
Neben Familie und Beruf gab es für Christian Dirschauer stets eine ehrenamtliche Schiene. Schon bald nach seinem beruflichen Einstieg bei der Stadt wirkte er auch in der „Komba“ mit – in der Gewerkschaft der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Dort war der Neuling sofort angetan „von den engagierten Leuten, die sich für die Arbeits- und Rahmenbedingungen aller einsetzen“. Sein eigenes Engagement wurde auch immer mehr. Zunächst organisierte Christian Dirschauer Warnstreiks in Flensburg mit und begleitete Tarifverhandlungen. Innerhalb der Stadtverwaltung liefen die Wahlen zum Personalrat.

2011 wurde Christian Dirschauer als Spitzenkandidat der Beamtenliste gewählt und dann für diese Aufgabe freigestellt. Nun saß er im Rathaus und registrierte bald eine Wiederwahl. „Ein Vertrauensbeweis von 90 Prozent hat mich noch mehr motiviert“, verrät er. 2016 schaffte der Flensburger sogar den Sprung auf den Landesvorsitz der „Komba“.
2018 brachte eine Zäsur: Christian Dirschauer bewarb sich erfolgreich als Leiter der Personalabteilung der Stadt Flensburg. Damit gehörte er automatisch der Arbeitgeber-Seite an, die Jahre in der Gewerkschaft waren unwiderruflich vorbei. Dafür war nun mehr Zeit für die Politik. Als Beamter der Stadt galt für ihn eine Neutralitätsverpflichtung, die einen Sitz im Stadtrat ausschloss. Im SSW war er aber immer aktiv – als Landesvorsitzender der SSW-Jugend, als Vorsitzender des Ortsverbandes Sankt Jürgen/Mürwik oder im Kreis- und Landesvorstand.

Der Weg in den Landtag von Kiel
2017 kandidierte er erstmals für den Landtag. Als kleinstes Glied der damaligen „Küstenkoalition“ wurde der SSW allerdings abgestraft und kam nur auf drei Mandate. Christian Dirschauer stand auf dem undankbaren Listenplatz vier. Im August 2020 schied dann Flemming Meyer aus. Dessen bisherigen drei Ausschüsse bearbeitete nun sein Nachrücker, der sich zugleich vom Flensburger Rathaus verabschiedete. „Das war mitten in der Corona-Pandemie“, erinnert sich der heute 43-Jährige. „Der Kieler Landtag bestand fast nur aus Video-Konferenzen, man konnte sich nur schwerlich ein Netzwerk aufbauen.“ Der Umgang mit der Corona-Pandemie war in der ersten Zeit das Top-Thema, dann folgte die Zeit der Lockerungen. Die SSW-Fraktion blickte dabei auch immer ein Stück nach Norden. „Dänemark ging zunehmend einen anderen Weg als Deutschland“, erklärt Christian Dirschauer. „Dort war und ist man aber auch mit der Digitalisierung viel weiter.“

Im Oktober 2021 übernahm er auch den Landesvorsitz von Flemming Meyer. Die Landtagswahlen 2002 endeten mit SSW-Jubel: 5,7 Prozent – das beste Ergebnis in der Parteigeschichte. Die Fraktion war damit wieder vierköpfig und konnte so die Arbeit auf mehr Schultern verteilen. Die politischen Steckenpferde von Christian Dirschauer sind der Sozialausschuss sowie der Umwelt- und Agrarbereich. Ein stetig wiederkehrendes Thema: der Zustand der Flensburger Förde. „Die Nachteile der Muschelfischerei, die zuletzt viel diskutiert wurden, sind da nur ein kleiner Block“, erklärt der Landtagsabgeordnete. „Es geht hauptsächlich um hohe Nährstoffeinträge, Mikroplastik und Altmunition.“ Im sozialen Sektor sah sich Christian Dirschauer aufgrund einiger Pflegefälle in der eigenen Familie und den damit verbundenen Herausforderungen für die Angehörigen dazu veranlasst, den Verein „Wir pflegen“ als Basis einer Selbstvertretung mitzuinitiieren. Kürzlich fand eine spezielle Fachwoche in Schleswig-Holstein statt.

Eine persönliche Neustrukturierung der Ämter
Im Frühling 2023 wurde der SSW-Tausendsassa als Direktkandidat von Kauslund in den Stadtrat gewählt. Doch in diesem Januar musste alles neusortiert werden. SSW-Urgestein Lars Harms zog sich aus der Landespolitik zurück. Christian Dirschauer übernahm den Vorsitz der SSW-Fraktionsvorsitz und des Finanzausschusses. Dieses Gremium des Landtages tagt immer donnerstags, praktisch parallel zur Flensburger Ratsversammlung. Folglich gab er sein lokales Mandat zurück, blieb aber als bürgerliches Mitglied im Sozial- und Gesundheitsausschuss. Gerade mit Blick auf den Neubau eines Flensburger Krankenhauses könnten gute Verbindungen zur Landespolitik noch wichtig werden. Zudem entschied sich Christian Dirschauer dazu, zum April den SSW-Landesvorsitz abzugeben. „Ich bin überzeugt davon, dass es nicht gut für eine Partei ist, wenn zu viele Schlüsselpositionen in einer Hand liegen“, erklärt er. „Der SSW lebt von Mitbestimmung und starken Strukturen – nicht vom Einfluss einzelner.“

Ein politischer Auftrag in Berlin reizt Christian Dirschauer nicht – hauptsächlich aus familiären Gründen. „In der Plenarwoche übernachte ich schon mal in Kiel“, verrät er. „Sonst hat unsere Landeshauptstadt den Charme, dass man nach Feierabend zu Hause sein und manchmal abends auch mit den Kindern essen kann.“ Den Sonntag versucht der Familienvater stets freizuhalten. Und in den Sommerferien sind normalerweise keine Sitzungen. Dann ist das Dirschauer-Quintett gerne auch mal unterwegs: mit Vorliebe nach Dänemark. Im letzten Sommer unternahm die Familie erstmals einen Road-Trip über die Niederlande und die Normandie in die Bretagne und zurück über Belgien.
Text: Jan Kirschner
Fotos: Jan Kirschner, privat