Was haben ein Beinbruch, der darauf folgende längere Krankenhaus-Aufenthalt und besonderes Geschichtsinteresse miteinander zu tun? Nun, in diesem Fall sorgte ein Beinbruch bei unserem Protagonisten Berthold Hamer für einen Krankenhausaufenthalt mit anschließender Reha, und in diesen längeren Ruhe- und Mußezeiten begann er sich für die Geschichte seiner Heimat besonders intensiv zu interessieren. Seinen Zwangsaufenthalt wegen eines doppelten Beinbruchs in der damaligen Klinik Ost in Mürwik nutzte er unter anderem zum Lesen des fast 1.000 Seiten starken Werks von Paul von Hedemann-Heespen, „Die Herzogtümer Schleswig-Holstein und die Neuzeit“, von 1926. Er blieb danach am Ball, begann, noch humpelnd, historische Informationen über Glücksburg zu sammeln und sich über sein erstes Buch Gedanken zu machen. Das war in den Jahren 1971 bzw. 1972. In 50 Jahren schrieb er 12 Bücher zur Stadtgeschichte und 6 Bücher zur Heimatforschung – zusammen 5000 Seiten.
Als Kriegskind auf die Welt gekommen
Berthold Hamer wurde am 7.9.1944 in Flensburg geboren in der „Dicke Nissen“ – so wurde damals gern in typisch plattdeutscher Manier und Abkürzung die Flensburger Diakonissenanstalt genannt. „Doch schon nach drei Tagen verließen wir, meine Mutter und ich, den Ort der Niederkunft“, weiß Berthold Hamer zu erzählen. „Es ging in mein künftiges Zuhause: nach Glücksburg, in die Bahnhofstraße 2. Meine Eltern heirateten 1943, mein Vater war direkt nach der Eheschließung permanent im Krieg im Osten. Meine Mutter erreichte ein letztes Lebenszeichen ihres Ehemannes im März 1945. Er galt anschließend als „vermisst“ – über sein Schicksal wurde nichts bekannt. In der Dachwohnung schlief die Oma im Schlafraum, Mutter auf dem Sofa im Wohnzimmer, ich später im eigenen Bett hinterm Vorhang in der Küche.“ Die ersten 15 Jahre seines Daseins lebte Berthold hier im dörflichen Glücksburg. „Die Strecke der Kreisbahn Flensburg-Glücksburg-Kappeln führte bis 1953 unmittelbar an unserem Haus vorbei – in gefühlten zwei Metern Abstand. Die Bahn fuhr zwar nicht besonders schnell, doch ratterte sie stets recht laut und unüberhörbar, in unserer Küche klapperten dann sämtliche Teller und Tassen.“
Nach Ostern 1951 wurde er in die Volksschule Glücksburg eingeschult. „Ich war kein besonders guter Schüler. Das größte Ereignis war stets das alljährlich stattfindende Schulfest. Für den speziellen Anlass, damals das größte Volksfest der Stadt, wurden die Kinder von der Glücksburger Kinder-Schützengilde entsprechend ausstaffiert: mit Tschako, Holzgewehr und Patronentasche.“ In Glücksburg war Bertholds Familie gut bekannt, denn seine Mutter arbeitete in vielen Arbeitsstellen im Ort, unter anderem für das DRK in unterschiedlichen Einrichtungen, sowie als Sprechstundenhilfe, Haushälterin und Leiterin der Kurverwaltung. Seine Oma, Melkerin im letzten in Glücksburg ansässigen Bauernhof Franzen mitten im Ort, hat dort bis Mitte der 1950er Jahre die letzten innerstädtisch aufgestallten Kühe gemolken. Durch diese Tätigkeiten hat der Enkel und Sohn viel über Leute und Häuser „mitbekommen“, das er bei den Haus- und Familiengeschichten in seinen Straßen-Chroniken, ab 2010 geschrieben, verarbeitete.
13jährig erkrankte Berthold an Lungen-Tuberkulose, verbrachte anschließend ein komplettes Lebensjahr zur Heilung und Reha in einem Sanatorium auf Föhr. Als Jugendlicher erwachte sein Interesse am Musizieren, er war einige Zeit lang Mitglied in einem Flensburger Akkordeon-Orchester und im Kirchenchor von St. Nikolai. Ostern 1956 wechselte der Junge auf die Mittelschule nach Flensburg, zur Käte-Lassen-Schule. Dort legte er später, im Jahr 1963, mit Erfolg die Mittlere Reife ab.
Der Wechsel nach Flensburg
Bertholds Mutter, seit 1956 offiziell eine Kriegswitwe, pachtete 1960 gemeinsam mit ihrem damaligen Lebensgefährten Erich Brandtstäter die „Neue Harmonie“ in der Toosbüystraße 21. Diese Lokalität galt in jenen Jahren als das Gesellschaftshaus in Flensburg. Im großen Saal ebendort fanden noch bis in 70er Jahre unzählige große Feste und Feierlichkeiten aller möglichen Flensburger Institutionen statt, auch zu Karneval und Sylvester in allen 5 Sälen. Familie Brandtstäter-Hamer bewohnte die Pächterwohnung. Das Alltagsleben in einer Gastronomie mit seiner ganzen Vielfältigkeit beeindruckte den heranwachsenden jungen Mann ungemein. Als Schüler hatte er bei Saalveranstaltungen am Getränkebüfett Dienst bis zum Betriebsschluss nachts, tagsüber im Büro, und immer gerne dabei. So war es nur natürlich und folgerichtig, dass er sich nach erfolgreichem Schulabschluss um eine Ausbildung zu einem künftigen Hotelkaufmann bemühte.
Der Wunschberuf
Im Hotel „Wappenklause“ in Neumünster war sein Lehrherr Paul Lenz Landeslehrlingswart. Das Personal des Lehrbetriebs bestand zum größten Teil aus nicht mehr jugendlichen Lehrlingen. „Es war schon eine harte Zeit für uns zahlreichen Lehrlinge. Es ging zu wie in einer „Kadettenanstalt“. Doch hatte das auch einen Vorteil: Wir lernten außerordentlich viel und genossen eine rundum fundierte Ausbildung“, kann Berthold Hamer der harten Zeit und der intensiven Ausbildung auch durchaus eine gute Seite abgewinnen. Seine schulischen Leistungen als Volksschüler und Realschüler waren nur „befriedigend“; das änderte sich während der Lehre auf der Berufsschule: Abschluss „Sehr gut mit Auszeichnung“. „Meine ersten Stationen als gelernter Hotelkaufmann führten mich 1966 als Volontär nach Hamburg, erst in den Ratsweinkeller und anschließend in die Gastronomie im Hamburger Hauptbahnhof.“
Zurück in Flensburg übernahm Berthold Hamer Aufgaben als Kaufmännischer Leiter im Gesellschaftshaus „Neue Harmonie“, sowie später das Stadtrestaurant mit der Saalbewirtschaftung im „Deutschen Haus“. Im Jahr 1970 gingen Maria Hamer und Brandtstäter nach 15 Jahren gemeinsamen getrennte Wege. Hamer, nun nicht mehr Junior-Chef der „NH“, wurde von Waldemar Nissen, dem Senior der „Förde-Reederei“, als Sachbearbeiter der Restaurationsverwaltung seiner Schiffe eingestellt. Jedes Jahr ein neues und größeres Schiff auf „Butterfahrt“, bald eine Flotte von 15 Einheiten mit 3 Millionen Fahrgästen.
„1970 wurden für Glücksburgs Tourismus mehrere Projekte im Kurort Sandwig errichtet. In der Bauphase und bei der Eröffnung der Hotels war ich dabei: 1972 Direktionsassistent Kurparkhotel, Schloßsee-Residenz, Intermar Hotel. 1973 gründete die BIG-Gewerbebau Schleswig-Holstein zur Betriebsführung ihrer weiteren, im Bau befindlichen Hotels in Plön, Malente, Grömitz, Niendorf, eine Managementgesellschaft. In der Intermar-Verwaltung in Kiel wurde ich als Prokurist eingesetzt. Dort war ich als Abteilungsleiter für die Bereiche Einkauf, Personal und Rechnungswesen verantwortlich.“ Immerhin elf Jahre lang, von 1973 bis 1984. Schon bald nach dem Start expandierte Intermar; unter den 10 Hotels galt Glücksburg als Flaggschiff der Gesellschaft. 1983 beendete die Intermar-Managementgesellschaft ihre Arbeit, der Hotelverbund zerfiel in einzelne Bestandteile. Schon seit einigen Jahren gab es gute Verbindungen und Geschäftsbeziehungen der Intermar-Gruppe zum einstigen deutschen Familienunternehmen „Steigenberger Hotels AG“. So war es folgerichtig, dass sich die Führung des „Steigenberger-Konzerns“ zunehmend um die Dienste unseres Hotelkaufmanns bemühte, Controlling und Revision in der Hotelzentrale.
„Mit großem Respekt habe ich die Aufgabe angenommen, und im Stillen nicht ohne Zweifel, ob der Job für mich wohl eine Nummer zu groß sei? Ein weites Gebiet, große Hotels, viele Fachleute, internationale Gäste. Aber bald zeigte sich der Steigenberger Vorstand überzeugt, dass seine Personalentscheidung Hamer richtig war.“
Das berufliche Ziel erreicht
Im Jahre 1984 war es soweit, Berthold Hamer brach seine Zelte in Kiel ab und siedelte in die Mainmetropole über. Von 1984 bis 2004, immerhin 20 Jahre lang, war er Leiter der Konzernrevision der Steigenberger Hotels AG mit Sitz in Frankfurt/Main. Dort, in der Hauptverwaltung des Konzerns, liefen sämtliche Fäden und Kommunikationen mit den insgesamt weltweit 79 Hotels der Gruppe zusammen. Berthold Hamer thronte in seinem Arbeitszimmer im 13. Stockwerk über der Stadt Frankfurt. „Ich war verantwortlich zuständig für die regelmäßig durchzuführenden Revisionen in jedem unserer Hotels. Es war ein sich regelmäßig wiederholender Ablauf im 3-Wochen-Turnus. In der ersten Woche fanden die Vorbereitungen der angekündigten Revision statt, in Woche 2 war ich mit meinem Team im zu prüfenden Hotel vor Ort, in der 3. Woche wurde von mir – wieder zurück in der Frankfurter Zentrale, der Abschlussbericht verfasst. Ja, so sah damals mein üblicher, beruflicher Ablauf aus, mein Leben war geprägt von Arbeit, Reisen und Berichten. Auf Reisen unterwegs auf der Autobahn, im Intercity oder Flieger, bequem per Intercity. Privatleben war da zweitrangig.“
„In meiner Frankfurter Zeit nutzte ich meine Freizeit, sogar den Urlaub, gern für regelmäßige Aufenthalte in der in Frankfurt ansässigen Deutschen Nationalbibliothek. Zwei Lebensweisheiten und Mottos prägten fortan mein Leben: einmal „Wer suchet, der findet“, aber auch das etwas abgewandelte Sprichwort „Reden ist Silber, Schreiben ist Gold“, schmunzelt unser Protagonist. Beide Dinge waren grundlegend wichtig sowohl im beruflichen Bereich als auch in seiner Freizeitbeschäftigung. Zahlen, Namen, Daten, Fakten – um diese Dinge geht es grundsätzlich in beiden Feldern.
Seine Lebensplanung sah vor, dass er im Alter von 60 Jahren aus seinem erfüllten Berufsleben aussteigen wollte. „Ich hatte 30 Jahre Lust auf Hotels, 10 Jahre Intermar und 20 Jahre Steigenberger, dann wurde mir das Kofferpacken lästig.“ So konsequent, wie Berthold Hamer im Beruf agierte, war er letztlich auch in seinem privaten Bereich. Seinen Wechsel in den Ruhestand hatte er seinen Arbeitgebern rechtzeitig genug angekündigt, im Jahre 2004 war es dann soweit: Hamer wechselte von der Steigenberger Hotel AG in den nächsten Lebensabschnitt: in den – wohlverdienten – Ruhestand. Ab Mai 2004 wohnte und lebte er wieder in Glücksburg. Seine nun neu gewonnene Zeit war hauptsächlich für die intensive Fortführung seines seit Jahrzehnten liebgewonnenen Hobbies vorgesehen.
Seine Hobbies und Leidenschaften
Schon seit dem Jahr 1970 war Berthold Hamer Mitglied im Heimatverein Angeln. Neben seinen intensiven Recherchen zu Glücksburg und der Region Angeln hatte er bereits angefangen zu schreiben. 1972 begann er in Glücksburg Vorträge über sein erworbenes Wissen zu halten. Im Jahr 1974 veröffentlichte er sein erstes Buch mit dem Titel „Geschichte Glücksburgs“. Friedrich Ferdinand, Prinz zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg, und einige andere Geschichtsinteressierte, förderten den frischgebackenen Autor, auch bei der Arbeit an weiteren Werken.
Zusätzlich engagierte Hamer sich in der Heimatforschung – und das überwiegend aus dem fernen Frankfurt! Er war allerdings bei Urlauben und längeren Wochenenden immer wieder gern zu Hause, besuchte die Mutter, nahm aber auch stets die Gelegenheit zum Forschen und Recherchieren wahr. Nebenbei war Hamer fast zehn Jahre lang – von 1980 bis 1989 – der Schriftleiter des Jahrbuchs des Heimatvereins der Landschaft Angeln. Er erstellte in jenen Jahren ein „Register 60 Jahrbücher Angeln“, ein Findbuch mit 25.000 Stichwörtern.
Schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass er das alles meist von seiner Frankfurter Wohnung aus – neben seiner intensiven beruflichen Arbeit – bewältigte. „Es war ein großer Vorteil für mich, dass mir dort vor Ort die Deutsche Nationalbibliothek mit ihrem unermesslichen Fundus an Büchern, Zeitschriften und Publikationen zur Verfügung stand.“
Berthold Hamer veröffentlichte in den Folgejahren weitere Bücher, so in 1994 die „Topographie der Landschaft Angeln“ in 2 Bänden.
Unseren Autor interessierten schon immer Lebensgeschichten, insbesondere die Biografien der Einheimischen. Im Jahr 2007 erschien „Biografien der Landschaft Angeln“ – in 2 Bänden, Topographie und Biografie sind nach 2 x 10 Jahren Sammel- und Schreibarbeit entstanden. Die „Glücksburger Biografien“ erschienen: Glücksburg ist die erste Kleinstadt in Schleswig-Holstein mit eigenständigem Biografischen Lexikon.
Im vorherigen Jahrzehnt widmete sich Hamer insbesondere der Geschichte seines Zuhauses, er fasste die „Glücksburger Straßen“ in insgesamt neun Bänden zusammen, von 2011 bis 2021. Die Schriftenreihe ist das größte Projekt zur Stadtgeschichte.
Auszeichnungen
Im Laufe der Jahre wurde er für seine ehrenamtlichen Leistungen von offizieller Seite mit hochkarätigen Auszeichnungen bedacht.
Im Jahr 1987 wurde er mit der Schleswig-Holstein-Medaille geehrt. Die Schleswig-Holstein-Medaille war bis 2008 das höchste Ehrenzeichen des Landes Schleswig-Holstein. Die 1978 gestiftete Schleswig-Holstein-Medaille wurde alle zwei Jahre für „hervorragende Verdienste um die Heimat“ durch den Ministerpräsidenten verliehen – so heißt es offiziell!
Im Jahr 2008 erhielt er den Kulturpreis des Kreises Schleswig-Flensburg. Der Preis wird alle 4 Jahre an Personen oder Gruppen verliehen, die im Kreisgebiet wohnen oder in ihrem Wirken eine Beziehung zum Kreis Schleswig-Flensburg haben und sich um das kulturelle Leben im Kreis in herausragender Weise verdient gemacht haben.
Seit 2010 ist Berthold Hamer Ehrenmitglied des Heimatvereins der Landschaft Angeln, und seit 2015 ist er Stadtschreiber e. h. (ehrenhalber) für Glücksburg. Die letztgenannte Auszeichnung wurde ihm feierlich von der Bürgermeisterin und Stadtpräsidentin im Rahmen einer Feierstunde überreicht. „Sie sind für Glücksburg ein wahrer Schatz“, lobte die Stadtpräsidentin sein Wirken.
Endstation
Genau wie in seiner beruflichen Karriere hatte Berthold Hamer klare Vorstellungen, was er wann in seinem Leben zu Ende bringen wollte, um anschließend neue Wege zu gehen. So hatte er für sich schon frühzeitig das Jahr 2020 als Endpunkt seiner intensiven Hobbytätigkeit vorbestimmt.
Seitdem lebt er in einer Wohnung in der Schloßsee-Residenz; von dort ist der Weg nur kurz zur Schule auf den Kegelberg, um im Stadtarchiv Glücksburg regelmäßig ehrenamtlich als unterstützender Hilfsarchivar zu arbeiten. Er kann es also einfach doch nicht ganz lassen …
Das Flensburg Journal bedankt sich bei Berthold Hamer für ein äußerst angenehmes und interessantes sowie lehrreiches Gespräch!
Mit Berthold Hamer sprach Peter Feuerschütz
Fotos: Benjamin Nolte, privat