Kurz vor Weihnachten 1974: Ein großer Frachter liegt vor dem Flensburger Harniskai. Er heißt „Pargolovo“ und hat rund 5000 Kilometer zurückgelegt, um 7635 Kubikmeter Holz aus Sibirien nach Mitteleuropa zu bringen. In Flensburg wird die riesige Menge in 800 Waggons verladen und in die DDR transportiert. Im anderen Deutschland sind die Ostsee-Häfen überlaufen, sodass der ungewohnte Gast aus der Sowjetunion die Fördestadt ansteuert. Die Besatzung wird die Festtage in Flensburg verweilen und bringt einen kalten Gruß von Väterchen Frost mit: In der Heimat Igarka am Jenissei sind es minus 40 Grad.
Im hohen Norden der Bundesrepublik ist es deutlich milder. Aber nicht nur wegen der Witterung mag so recht keine Weihnachtsstimmung aufkommen. In der Innenstadt wühlen die Baumaschinen. Flensburg hat noch keine Fußgängerzone, und über ihre Ausdehnung wird in der Stadtvertretung und in den Interessensvertretungen der Wirtschaft lebhaft diskutiert. Der Holm soll zu einem „echten“ Fußgängerbereich werden, die Große Straße wahrscheinlich und vielleicht auch die Norderstraße. „Ein Jahr voller Schlamm, Baulärm und Staub“, ärgern sich einige Kaufleute im Flensburger Zentrum. Wie es mal aussehen könnte, zeigen nur Dias aus Lübeck, Lüneburg oder Hildesheim.
Zudem steht der Bereich zwischen Rathausstraße und Oluf-Samson-Gang vor einer „Jahrhundert-Aufgabe“, der Altstadtsanierung. Eine Ausstellung zu diesem Thema ist während der Adventszeit gut besucht. Magistrat und Ratsversammlung versprechen in ihrem Weihnachtsgruß: „Eine gelungene Sanierung wird nicht nur zur Stärkung der Wirtschaftskraft beitragen, sondern auch ein weiterer Schritt für das Ziel, eine menschliche Stadt zu sein.“
Weihnachtslotterie und andere Wohltäter
Einen Weihnachtsmarkt findet man in diesen Tagen in Flensburg nicht. Am Südermarkt sorgt aber eine Weihnachtslotterie für das eine oder andere freudige Gesicht. Der Flensburger Gerd Kurzbach will eigentlich nur etwas Geld für die Telefonzelle wechseln, lässt sich von der charmanten Losverkäuferin aber für 20 Pfennig ein gerolltes Papierstück andrehen. Er traut seinen Augen nicht: Er hat ein Auto gewonnen. „Ein Volltreffer mit nur einem Los – das kommt selten vor“, staunt das Ehepaar Peter und Dorothea Kopta, das seit 1963 die Weihnachtslotterie betreibt. Im Café Maaß gibt es ein paar Tage später die Wagenpapiere. Weitere Autos und Farbfernseher warten auf glückliche Gewinner. Trotz der spektakulären Preise erwirtschaftet die Weihnachtslotterie einen Erlös von 160.000 D-Mark für den guten Zweck. Das Weihnachtshilfswerk, für das Stadtpräsident Horst Kiessner (CDU) und Oberbürgermeister Heinz Adler (SPD) getrommelt haben, sammelt 41.000 D-Mark an Spenden ein.
Nicht nur die Wohlfahrtsverbände zeigen sich in dieser Adventszeit wohltätig. So tauchen etliche Wochenmarkt-Beschicker mit Geschenktüten in Rentnerwohnheimen auf. Einige Mädchen erreichen, dass das Pferd „Sultan“ nicht eingeschläfert wird, sondern auf einen Gnadenhof kommt. Der Klub der Flensburger Köche lädt Waisen in die Grenzlandkaserne ein, wo das Unteroffizier-Corps den Kellerflur in ein festlich geschmücktes Zeichentrickfilm-Kino verwandelt hat. Kinder bekommen auch anderswo besondere Veranstaltungen geboten: So feiert das Weihnachtsmärchen „Der gestiefelte Kater“ am 3. Dezember im Stadttheater seine Premiere. Im „Palast-Kino“ laufen die Walt-Disney-Streifen „Aristocats“ und „Bambi“ auf der Leinwand, während das Fernsehen die vier Adventssonntage mit „Urmel spielt im Schloss“ würzt.
Prächtige Schaufenster und 35.000 Weihnachtsbäume
Für große Augen bei den Kleinen – aber nicht nur bei ihnen – sorgen die Schaufenster der Geschäfte. In der Altstadt leuchten „Uldalls Sterne“. Und zur Nikolaus-Aktion stehen gefüllte Kinderschuhe in der Auslage dieses Traditionshauses. Das Kaufhaus „Hertie“ hat in der Adventszeit samstags sogar bis 18 Uhr geöffnet. „Kinderherzen schlagen höher“, verheißt der Werbeslogan. Die Kassen sollen klingeln – trotz einer Inflation von sieben Prozent als Folge der Ölkrise. Das Warenhaus „Holtex“ wirbt: „Preisknüller – wir stoppen den Preisanstieg“. Manch einem wird dieser Trubel zu bunt geworden sein, weicht zum „Advent in Dänemark“ bei „Rita“ in Krusau aus oder genießt das Weihnachtskonzert in der Marienkirche. Das „Flensburger Tageblatt“ schreibt von „stillen Tönen“ und über einen „wohltuenden Gegensatz zum marktschreierischen Weihnachtsrummel unserer Konsumgesellschaft“.
In der Norderallee bewundern die Passanten die besondere Blütenpracht eines Weihnachtskaktus, den die Eheleute Petrich in den letzten sieben Jahre herangezogen haben. Die meisten setzen dann aber doch auf einen der 35.000 Weihnachtsbäume, die die offiziellen Verkaufsstellen am Bahndamm in der Friedrich-Ebert-Straße, an der Sankt-Jürgen-Treppe, auf dem Südermarkt, am Ostseebadweg oder auf dem Nettelbeckplatz bereithalten. Die Hälfte der Bäume stammt aus Dänemark, der Rest aus Forsten in und um Flensburg. Sonntags kann man sich allerdings den Gang zum Stand sparen – es gilt das Ladenschlussgesetz.
„Relativ ruhige“ Festtage
Heiligabend läuten die Glocken der Kirchtürme das Weihnachtsfest ein. Die Kirchengemeinde Engelsby lädt zur „Weihnachtsfeier für Einsame“ – mit Weihnachtsliedern und Weihnachtsmann. Die Flensburger Gottesdienst-Spaziergänger müssen durch den Dauerregen. Da bevorzugt manch einer das Puschenkino. Im ersten Programm heißt es zunächst „Warten aufs Christkind“, dann folgt „Weihnachten für Erwachsene“, die Geschichte um einen Sträfling auf Hafturlaub. Das ZDF verspricht mit einem Spielfilm: „Engel sind überall“. Nach einer TV-Christvesper ist schon Sendeschluss. Die ARD macht weiter mit einer Mitternachtsmesse. Die Festtage bringen reichlich Märchen und Musik. Im Flensburger Stadttheater hebt sich der Vorhang für „Eine Komödie der Liebe“ und „Der fliegende Holländer“.
Nicht alle sind Weihnachten zu Hause. Flensburger Seeleute sind auf den Weltmeeren unterwegs. Reedereien melden das brasilianische Santos, den Pazifik zwischen Osaka und Vancouver, die Karibik-Insel Curacao, Pakistan oder auch irgendwo auf Ost- und Nordsee als Lageort. Die Kapitäne und Besatzungsmitglieder verpassen „relativ ruhige“ Weihnachten, wie Polizei und Feuerwehr schließlich bilanzieren: Kein Tannenbaum brennt, nur ein paar Einbrüche und Schlägereien. Und in der Angelburger Straße artet eine Familienfeier aus. Der betrunkene 51-jährige Hausherr schießt mit einem Kleinkalibergewehr. Direkt nach Weihnachten gehen – trotz Verbots – die ersten Knaller in die Luft. Die ersten Silvester-Boten sind damit zwei Tage früher als der letzte verspätete Weihnachtsgruß: das Krippenspiel, das Jungen und Mädchen der Kirchengemeinde Adelby in der Nikolaikirche aufführen.
Text: Jan Kirschner