Als ich mit sechs Jahren schulpflichtig war, wohnten wir seit vier Jahren in Nürnberg, der damaligen „Stadt der Reichsparteitage“, Uhlandstraße 27.
Einschulung war im Herbst. Die Mädchenschule lag gleich an der Ecke, also nur ein kurzer Schulweg für mich. An der anderen Ecke gab es einen Biergarten. Dorthin – welche Attraktion – lieferten schwere Ackergäule auf Leiterwagen regelmäßig riesige tropfende Eisblöcke. Während der ersten Schuljahre wirkte sich der Krieg noch nicht sehr auf unseren Alltag aus. Es wurde viel geflaggt und wir Kinder aufgefordert, alle möglichen „Metalle“ zu sammeln … z. B. leere Zahnpasta-Tuben. Die waren damals aus Aluminium.
Mein Vater war Geschäftsführer eines Textilgeschäftes an der Königstraße. Dort schauten wir einmal von oben die Aufmärsche des Reichsarbeitsdienstes – RAD – blitzende Spaten über der Schulter – zum Olympia-Stadion an. Mein Vater wurde dann zur Wehrmacht eingezogen und die nächtlichen Bombenangriffe kamen immer öfter und heftiger. Wir siedelten vorübergehend nach Flensburg um. Hier besuchte ich die Marienschule. Schulweg: Mühlen-, Selck- und Marienstraße‚ „runter“. Bei Alarmwarnung wurden wir „nach Hause“ geschickt…. Also wieder „rauf“. Aus familiären Gründen zogen wir zu den Großeltern mütterlicherseits nach Delmenhorst. Nächster Schulwechsel – Schulweg etwa 30 Minuten. Derzeit wurden die Schulklassen „von Amts wegen“ zur Feldarbeit beordert – Kartoffelkäfer absammeln. Auf dem Land in der Nähe wohnte eine Tante. Sie war mit einem Dorfschullehrer verheiratet. Wir statteten der Familie einen Besuch ab: Das Dorf lag weit von einer Bahnstation entfernt. Mit einem Pferdewagen wurden wir ans Ziel gebracht und ich lernte eine Mehr-Generationen-Klasse in einem Raum mit Ofenheizung kennen. 1945: Die Alliierten rückten näher. In Delmenhorst beobachteten wir nachts die Bomber Richtung Bremen und die Flak-Abwehr. Ob wir damals noch regulär Unterricht hatten, weiß ich nicht mehr. Aber als ich zehn Jahre alt werden sollte, bekam ich eine „Einladung“ zum Eintritt in den „BDM“, Bund Deutscher Mädchen, dem weiblichen Pendant der „HJ“ Hitler Jungen. Einmal war ich dort und erhielt das – recht ansprechend gestaltete Uniform-Strickjäckchen. Dann war der Krieg aus. Delmenhorst stand unter britischer Besatzung und der Mangel hielt Einzug. Es wurde gehamstert, heimlich „schwarz“ das Hausschwein „Kurtchen“ geschlachtet, im Wald Stubben gerodet – Kinder sammelten Zweige und Tannenzapfen zum Heizen, der Schwarzmarkt blühte. Schule ??? Irgendwie startete ich ab 1946 noch mit der Oberschule in Delmenhorst, dann zogen wir nach Flensburg und ich kam auf das Lyzeum – die Auguste-Viktoria-Schule. Wir hatten Unterricht in Vor- und Nachmittagsetappen in ungeheizten Klassenräumen. Eine Lehrerin wollte „ihre Mädchen“ nicht im Dunkeln – keine Straßenbeleuchtung, Stromsperre – nach Hause schicken. Kurzerhand ging sie im Klassenverband los und lieferte eine nach der anderen sicher ab, um dann erst selbst den Weg alleine zurück zu laufen. Viele Mädchen waren Flüchtlinge, lebten in Lagern und hatten wenig zu essen. Sie kamen trotzdem zur Schule. Sie hatten schlimme Fluchterfahrungen, besaßen kaum warme Kleidung, aber sie kamen zur Schule! Wir alle wurden dann mit Schulspeisung versorgt, mussten aber auch den so gesunden ekligen Lebertran schlucken. Die Kochgeschirre der heimgekehrten Väter ermöglichten es, Portionen mit nach Hause zu nehmen. Nach und nach kehrten einige genesene Verwundete als Lehrer in den Unterricht zurück. Ich war keine gute Schülerin und hatte vor allem Schule einfach „satt“. So verließ ich 1950 mit der mittleren Reife das Lyzeum.
Eine kaufmännische Lehre begann, ich nahm einige Male am Berufsschulunterricht teil. Als sich mir die Möglichkeit bot, ein Jahr als Austauschschülerin des American Field Service (AFS) eine Highschool in den USA zu besuchen, ergriff ich natürlich die Gelegenheit. Im September 1952 kam ich an der Fairfield Highschool in die Abschlussklasse „senior class“ und in ein völlig unbekanntes Schulsystem. Bis dahin war das Austauschjahr schon eine Schule für mein Leben gewesen und blieb es auch. Von der Abreise aus Flensburg über Frankfurt / Main mit dem Sonderzug aller Austauschschüler des AFS weiter nach Genua. Von dort mit dem Schiff 8 Tage nach New York und nach zwei Tagen mit einem weiteren Austauschschüler – Dieter M. – im Bus in den tiefsten Mittleren Westen der USA – Fairfield – ein kleiner Ort im US-Bundesstaat – „corn-state“ Iowa, dem „Mais-Staat“. Von Flensburg nach Fairfield hatte ich 18 Tage gebraucht. Nur langsam erschloss sich mir das andere Schulsystem.
- Co-education: Jungen und Mädchen zusammen im Unterricht; außer im Sport
- Kein fester Klassenverband – alle laufen ständig von einem Raum zum anderen zu den dortigen Fachlehrern
- Alle Grundschüler kommen auf die Highschool
- Es gibt vier Klassenstufen: Freshmen, Sophomores, Juniors und Seniors. Die Schule hat 300 Schüler + Lehrer
- 40 % der Schüler werden mit sieben Bussen aus 30 Meilen Entfernung im Umkreis abgeholt und zurück gebracht
- Das Fächerangebot ist sehr vielseitig, wenig Pflicht, kein Religionsunterricht
- Jedes Kind hat einen eigenen „locker“ / Spind mit Schlüssel
- Mittagessen in der Schule – vier Köchinnen
Viele weitere Unterschiede sollte ich erst später feststellen. Allerdings ging mir bald auf, dass das Niveau nicht dem unserer Oberschulen entsprach. Mein erworbenes Schulenglisch war zwar hilfreich, aber nicht gerade alltagstauglich. „Bratkartoffeln mit Speck“ oder „Schnürsenkel“ hatte nicht im Lehrplan gestanden. Um so stolzer war ich, als nach ein paar Monaten unter einem Schulaufsatz der Vermerk „sounds like poetry“ stand.
In dem Fach „politics“ wurde ein Wettbewerb zum Thema „I speak for democracy“ ausgeschrieben. Dieter M. und ich erhielten die beiden ersten Preise. Ich gewann ein kleines rotes, tragbares Radio. Es begleitete mich viele Jahre. Ob der Preis Auslöser für die Einladung eines Fernsehsenders in der Landeshauptstadt Des Moines war, weiß ich nicht. Jedenfalls hielt ich dann – wie aufregend! – am 17.03.1953 in dem Programm „under the same stars“ eine Rede über meine Heimat. Ein weiteres Highlight in der Schule bildete die Operette „The red mill“, die von der Musiklehrerin auf die Bühne gebracht wurde. Das Schuljahr endete am 16. Mai 1953 mit einem Bankett. Dieter M. und ich bedankten uns für die großartige Unterstützung und die Möglichkeit für dieses Austauschjahr. Vor uns lag eine mehrwöchige Busreise durch verschiedene Staaten der USA.
In „meinem“ Bus waren sieben europäische Länder vertreten. Ich lebte auf: Endlich wieder mal gleichaltrige Gesprächspartner mit ähnlichem „background“. Höhepunkt der Rundreisen: Empfang aller AFS-Austauschschüler durch den Präsidenten Dwight D. Eisenhower (Ike) auf dem Rasen vor dem Weißen Haus. Dann ging es zur Abreise nach New York. Ich hatte wieder Glück und bekam auf dem Luxus-Liner Andrea Doria eine Passage für die Rückreise nach Genua. Am 02.08.1953 um 01:57 Uhr kam ich mit dem Zug wieder in Flensburg an. Eine sehr wichtige Entscheidung hatte ich da schon getroffen:
Ich wollte doch noch mein Abitur machen!
Meine Eltern hatten schon erfahren, dass es in Flensburg neuerdings eine Wirtschaftsoberschule gab. Dort meldete ich mich an und wurde nach einer Aufnahmeprüfung angenommen. Der neue Klassenverband in der Schule am Schlosswall hatte 27 Mitglieder (13 w, 14 m), die unterschiedlicher kaum sein konnten. Der Altersunterschied zwischen der Jüngsten und dem Ältesten betrug sechs Jahre. Bereits erworbene Schulabschlüsse: Mittelschule, Handelsschule, mittlere Reife, Quereinsteiger … Fahrschüler z. B. aus Wanderup, Hürup, – Husum und von Sylt – sie wohnten zur Untermiete in Flensburg – Individualisten und ausgeprägte Charaktere.
Manch gestandener Pädagoge hätte sich wohl einen homogeneren Klassenverband gewünscht. Hier waren Diskussionen und gewisse Dreistigkeiten programmiert. Dennoch gelang es uns, gemeinsam im Blauen Saal des Deutschen Hauses selbst gefertigte Kabarett-Stücke aufzuführen, ein futuristisches Theaterstück auf die große Bühne zu bringen und mehrere Klassenfahrten zu unternehmen. Wir legten 1957 das Abitur ab. Da hatte ich in 16 Jahren 8 verschiedene Schulen besucht. Wir von der WO „zerstreuten“ uns erst einmal. Nach der Berufsfindungs- und Familiengründungszeit etablierten sich jährliche Klassentreffen. Im Jahr 2010 wurde es in Nürnberg organisiert. Und so schließt sich der Kreis meiner Schulzeiten. Ich fuhr zwei Tage vorher hin und suchte die Stätten meiner Kindheit auf. Die Uhlandschule gibt es noch – heute als Mittelschule –, das Wohnhaus Nr. 27 steht noch und an der anderen Ecke – ehemals „Biergarten“ – ist heute ein Bistro.
Ingeborg Asmußen-Müller