Die Unruhe kam aus der Luft. Am 23. April 1945 heulten in den Abendstunden mehrmals die Sirenen, Menschen hasteten in die Keller und in die Schutzräume. Britische Bomber näherten sich dem nördlichsten Zipfel Deutschlands. Was am Boden niemand ahnte: Es war eine Armada von 148 Fliegern, die Kurs auf Flensburg nahm, um dort Bahnhofs- und Hafenanlagen zu zerstören. 150 schwere Luftminen, 600 Sprengbomben und etwa 25.000 Brandbomben – so der Plan – sollten über der Fördestadt abgeworfen werden. Eine Bombenlast, die größer war als alles, was jemals zuvor auf Flensburg niedergegangen war. Doch die auf rund 100.000 Menschen angewachsene Stadt hatte einen Schutzengel: das norddeutsche Schmuddelwetter. Eine dicke Wolkendecke versperrte die Sicht auf die Zielregion. Die Flugzeuge drehten ab, an diesem Abend kam keine einzige Bombe zum Einsatz.

Eine Akte der Stadtverwaltung mit dem Titel „Bombenabwürfe in Flensburg“ – die Präposition „über“ wäre passender gewesen – und dem Vermerk „Geheim!“ ist erhalten geblieben. Die Kriegsschädenstelle, dem Oberbürgermeister direkt untergeordnet, listete insgesamt 38 Luftangriffe und 461 Alarmierungen im gesamten Zweiten Weltkrieg auf. Der schlimmste Einzelfall: Am 19. Mai 1943 griffen US-Bomber die Nordstadt an. Die amtliche Bilanz registrierte 83 Tote, vornehmlich im Bereich einer Fischkonservenfabrik, und rund 1500 Obdachlose. Insgesamt kam Flensburg – im Vergleich zu vielen anderen Orten im Deutschen Reich – aber glimpflich davon. Es entwickelten sich Legenden, weshalb die nördlichste Stadt so wenig mit schweren Luftangriffen konfrontiert war. Der wichtigste Schutzschirm war aber wohl der Zufall des Wetters – so wie am 23. April 1945.

Organisation des Luftschutzes

Offiziell galt in Flensburg – wie auch für Kiel oder Lübeck – die „Gefährdungsstufe I“. Mehrere Kasernen, der Marinestützpunkt Mürwik oder die Flensburger Werft, auf der lange Zeit U-Boote hergestellt wurden, mussten als bevorzugte Angriffsziele eingestuft werden. Mit dem 30. November 1944 wurden die Polizeistunden ausgeweitet. Nach 22 Uhr durfte niemand mehr auf die Straße. Die dunkle Jahreszeit musste zappenduster sein, Städte und Siedlungen sollten aus der Luft möglichst unscheinbar sein. Wohnungs- und Schaufenster wurden mit Verdunklungsstoffen und Pappen abgedeckt, die Straßenbeleuchtung war abgeschaltet, und Fahrzeuge durften nur mit schmalen Schlitzblenden ausgestattet sein.

Flensburg 1945 Folge 4: Luftkrieg über Flensburg
Luftschutzstollen unter dem Museumsberg; Foto: Stadtarchiv Flensburg

Der Luftschutz war breit organisiert. Bereits 1933 (!) wurde der Reichsluftschutzbund gegründet, der sich direkt der NSDAP unterordnete und bis zu 20 Millionen Mitglieder zählte. In Flensburg saß diese NS-Organisation am Südermarkt und veranstaltete Vorführungen und Vorträge. Im Nordergraben gab es sogar eine Luftschutzschule. Flensburg war in vier Reviere unterteilt, darunter agierten Block- und Hausluftschutzwarte. Diese wachten über Ausbildung, Ausrüstung und die Schutzkeller-Einrichtung der einzelnen Gebäude. Ein Luftschutzraum im Keller war Pflicht eines jeden Hauseigentümers.

Bunker, Stollen und Flak

Die Anforderungen an Luftschutzräume wuchsen mit der fortschreitenden Bombentechnik. Mehrere Bunker wurden gebaut. Unter dem Museumsberg bot ein langer Stollen Platz für 800 Menschen. Ein noch größeres Vorhaben war seit November 1943 in der Apenrader Straße im Bau: ein Stollen mit 3200 Sitzplätzen. Wegen des allgemeinen Materialmangels war eine Fertigstellung aber erst für 1946 prognostiziert. Bei Kriegsende gab es für etwa 100.000 Menschen nur 25.000 Plätze in adäquaten Luftschutzräumen. Alle anderen mussten bei Vollalarm auf Keller oder behelfsmäßige Unterstände ausweichen.

Neben dem Schutz gab es bei Luftangriffen die Gegenwehr. Die sogenannte Flugabwehrkanone – kurz Flak – war zunächst am Ostseebad, in der Grenzlandkaserne, in der Duburgkaserne und am Hafen positioniert. Weitere Stellungen folgten im Laufe des Krieges im Bereich von Bohlberg, Blasberg, Friedensweg, Mühlental, Jarplund und Handewitt. Die 8,8-Zentimeter-Geschosse der Flak konnten 10.600 Meter Höhe erreichen. Die Flieger der Alliierten griffen 1945 aus etwa 8000 Metern an. Laut Berechnungen bedurfte es 4000 bis 6500 Schüsse für den Abschuss eines einzigen gegnerischen Bombers. Ein ohrenbetäubendes Geknatter.

Bombenangriffe im April 1945

Im Februar und März 1945 war es ruhig über Flensburg, da es kein Ziel von Luftangriffen war. Der Flensburger Wilhelm Clausen mutmaßte am 30. März in seinem Tagebuch: „Die feindlichen Flieger haben an Flensburg kein Interesse. Haben es von Anfang an kaum gehabt, und nachdem auf der Werft keine U-Boote mehr gebaut werden, schon gar nicht mehr.“ Zwei Wochen später klang es ganz anders: „Wir müssen täglich, ja stündlich darauf gefasst sein, dass die Kriegsfurie an uns heran- und über uns hinwegbraust.“ Und ein paar Zeilen weiter: „Die Hoffnung, dass Flensburg, ohne Kampfplatz geworden zu sein, heil aus dem Kriege hervorgehen würde, wird leider zu Schanden werden.“

Flensburg 1945 Folge 4: Luftkrieg über Flensburg
Luftschutzschule am Nordergraben: Übung mit Gasmasken; Foto: Stadtarchiv Flensburg

Der 2. April 1945, der Ostermontag, begrüßte Flensburg mit Sturmböen, saftigen Regengüssen und einem Luftalarm am Nachmittag. Tags darauf fielen knapp zwei Dutzend Sprengbomben auf den Flugplatz Schäferhaus. Werkstatthallen und Rollfeld wurden getroffen, ein Sprengtrichter halbierte an einer Stelle die Lecker Chaussee. Die Druckwellen beschädigten selbst in der Friesischen Straße Fenster und Dächer. Das verletzte Pferd eines Landwirtes musste notgeschlachtet werden. Beim nächsten Angriff auf den Flugplatz am 13. April starben drei sowjetische Kriegsgefangene, 20 deutsche Flugzeuge gingen in Flammen auf.

Am 19. April galt der britische Angriff eigentlich dem Flugplatz in Schleswig, zehn Spreng- und 600 Brandbomben fielen aber schon über Flensburg-Weiche. Getroffen wurden eine Baracke im Zwangsarbeiter-Lager, der Schuppen und die Verladerampe des Güterbahnhofs, eine chemische Fabrik und fatalerweise ein Wohnhaus in der Langen Reihe. Obwohl sie im vermeintlich sicheren Keller Unterschlupf gesucht hatten, starben eine aus dem Baltikum geflüchtete Frau sowie eine junge Mutter mit ihrer fünfjährigen Tochter und einem zwei Monate alten Säugling.

Die Schwere des Alltags

Neben der gewachsenen Gefahr aus der Luft erschwerte die allgemeine Versorgungssituation den Alltag zunehmend. Bereits Anfang März 1945 – auch als Folge des Zustroms von Flüchtlingen – mussten Brot-, Fett- und Nährmittelrationen weiter gekürzt werden. Im April wurden Gemeinschaftsküchen eingerichtet, damit jeder Einwohner täglich eine warme Suppe bekommen konnte. Die Beratungsstelle des „Deutschen Frauenwerks“ empfahl Gerichte mit Roggen-Vollkorn-Flocken, während die Tageszeitung anmahnte: „Esskartoffeln gebet nie als Futter für das liebe Vieh!“ Gaststätten hatten nicht mehr regulär geöffnet. Wenn diese nicht schon in ein Flüchtlingsquartier umgewandelt worden waren, hatten nur noch Soldaten Zutritt.

Angesichts der Notlage nahmen Diebstähle zu. In der Nacht zum 8. April brachen Unbekannte in eine Lebensmittelgroßhandlung in der Johannisstraße ein. Am folgenden Morgen fehlten 50 Kilogramm Zucker, 50 Kilogramm Salz, 40 Kilogramm Mehl, 20 Kilogramm Kunsthonig, 57 Pakete Waschpulver und 46 Pakete Einweichmittel. Wer erwischt wurde, musste mit einer harten Strafe rechnen. Ein Küchengehilfe aus Mürwik hatte bei den Lieferungen an die Lazarette täglich einen Liter Vollmilch für sich abgezweigt. Das sei „verwerflich gegenüber Kranken und Kinder“, meinte ein Gericht und verurteilte den Täter zu einer sechsmonatigen Haftstrafe.

Der Energiesektor lahmte. Oberbürgermeister Ernst Kracht und NSDAP-Kreisleiter Hermann Riecken nahmen Mitte Februar 1945 mit einem gemeinsamen Appell den Gasbedarf ins Visier: „Solange es noch Verbraucher gibt, die das Mehrfache der ihnen zugeteilten Mengen glauben verbrauchen zu können, kann eine geregelte Bewirtschaftung nicht aufrechterhalten werden.“ In den folgenden Wochen wurde die Gaslieferung der Stadtwerke wiederholt ausgesetzt. Dank eines milden Winters konnte die Bevölkerung die Kohlen- und Gasvorräte halbwegs strecken.

Flensburg 1945 Folge 4: Luftkrieg über Flensburg
Am Südermarkt saß der Reichsluftschutzbund; Foto: Dänische Zentralbibliothek

Das Heizen mit Holz als Alternative wurde nicht geduldet. Für die Marienhölzung wurde ein scharf kontrolliertes Betretungsverbot ausgesprochen, um den Holzbedarf für Bäckereien und Gaswerk sicherzustellen. Seit dem 1. März 1945 war der Straßenverkehr stark reglementiert. Und ab Mitte April hielt die Straßenbahn nicht mehr in der Innenstadt, sondern nur noch nördlich vom Nordertor, am Reichsbahnhof sowie zwischen Hafermarkt und Mürwik. Züge verließen Flensburg nur noch an drei Tagen in der Woche.

Unterricht und Kultur

In der alltäglichen Not blieb das Elend des Krieges immer allgegenwärtig. Alarmsirenen und Bombenangriffe sorgten für Angst, und die Lazarett-Züge, die täglich weitere verwundete Soldaten nach Flensburg brachten, wirkten sehr bedrückend. Das Deutsche Haus und etliche Schulen hatten sich in Krankenlager verwandelt. In der Adolf-Hitler-Schule (Goethe-Schule) bemühte man sich, mit Flaggenparaden den ideologischen Rahmen zu halten, aber der Lernstoff konnte immer seltener vermittelt werden. In den beengten Verhältnissen fand Unterricht kaum noch statt, zumal ältere Schüler Bildungs- für Kriegsaufgaben opfern mussten – an der Front oder als Flakhelfer.

Erstaunlich, dass das kulturelle Leben fast bis zum letzten Atemzug der NS-Diktatur weiterlief – wenn auch auf Sparflamme. Das „Colosseum“ in der Großen Straße, mit 960 Plätzen das bedeutendste Kino nördlich des Nord-Ostsee-Kanals, zeigte am 13. April 1945 den „Orient-Express“. Einen Tag später hatte das „Capitol“ den Kriminalfilm „Zentrale Rio“ im Programm. Der letzte Kinoabend im Zweiten Weltkrieg. Einige Tage später veranstaltete das Trollseelager einen Boxabend, zu dem sogar Sportlerlegende Max Schmeling erschien und für die westeuropäischen Insassen und Soldaten eifrig Autogramme schrieb. Für Wehrmachtsangehörige öffnete auch das Stadttheater. Tanzabende mit Elisabeth Müller-Brunn wurden mehrfach wiederholt, Gerty Molzen sang, und Walzer oder Märsche lebten in Konzerten auf. In der Nikolaikirche zelebrierte Organist Walter Kraft mehrfach Bach-Kompositionen.

Die NS-Organisationen

Auch NS-Organisationen arbeiteten in Flensburg fast bis zum letzten Kriegstag. Am 20. April hatte Adolf Hitler Geburtstag, am Vorabend sprach Propagandaminister Joseph Goebbels im „Großdeutschen Rundfunk“, und in Flensburg lud die NSDAP ihre Ortsgruppen und Parteigenossen gleich an vier Abenden ins Stadttheater. Gauredner August Glasmeier kam aus Lübeck und würzte seinen Vortrag mit irritierendem Pathos und Durchhalteparolen. „Der Führer ist der erste Mann in 2000-jähriger Geschichte, der das Volk auf einen Nenner brachte und einigte“, sagte er, um kurz darauf die eigentlich aussichtlose Kriegslage zu beschönigen: „Nicht der Frontverlauf, nicht die einzelne Schlacht ist entscheidend, sondern das Zerbrechen der Moral und die Zermürbung des Herzens.“

Flensburg 1945 Folge 4: Luftkrieg über Flensburg
Das Gaswerk nach einem Bombenangriff 1942; Foto: Stadtarchiv Flensburg Foto: Stadtarchiv Flensburg

Ihren Nachwuchs rekrutierte die NSDAP weiter. Am 20. April 1945 wurde der Jahrgang 1935 in die Hitler-Jugend (HJ) aufgenommen. Fünf Tage später musste die erste Gefolgschaft im Bann 86 antreten – um exakt 18.45 Uhr an der Endstation der Straßenbahn in der Apenrader Straße. Weltanschauliche Schulungen und körperliche Ertüchtigungen kamen aus Personalmangel zum Erliegen, singend zog die HJ trotzdem durch die Straßen: „ … und setzen treu zu unserer Fahne auch unser Leben ein.“ Seit Jahresbeginn erfasste der „Volkssturm“ auch die 14- bis 16-jährigen Jungen. Sie wurden zu Lehrgängen kommandiert.

Ab Ende März 1945 wurde Flensburg in einen Verteidigungszustand versetzt. Dabei sollte auch der NS-Organisation „Werwolf“ eine Rolle zukommen. Am 22. April wurden Hitler-Jungen in Kiel auf einen Partisanenkrieg gegen die Alliierten vorbereitet. Ihr „geheimer“ Auftrag lautete: Sprengung der nach Flensburg führenden Brücken im Ernstfall. Den Heranwachsenden wurde gezeigt, wie Sprengladungen an heranrollende Panzer angebracht werden. Ein Vorkommando hatte da bereits die Pflastersteine der Brücken in der Schleswiger Straße, an der Husumer Straße und im Peelwatt entfernt.

Die weibliche Jugend war im „Bund deutscher Mädchen“ organisiert. Sie war in den letzten Tagen des Krieges in Nähstuben sowie im Versorgungs- und Gesundheitsbereich tätig. Die junge Generation wurde mit Propaganda überschüttet und verblendet. Ein Großteil glaubte auch im April 1945 noch an den Führer und den „Endsieg“. In anderen Gruppen der Bevölkerung sah das Stimmungsbild anders aus. Ein gebürtiger Flensburger, der schon vor 1933 der NSDAP beigetreten war, vertraute seinem Tagebuch Folgendes an: „Die Kriegslage ist furchtbar. Die Russen haben nun Berlin eingekesselt. Es ist der letzte Todeskampf des Dritten Reiches …  Nun aber, da wir den Glauben an die Unbesiegbarkeit der Führer in Berlin verloren haben, bricht sich auch mit überraschender Schnelligkeit die Erkenntnis Bahn, dass unsere Führer nicht nur unseren Krieg verloren, sondern auch verschuldet haben. Wir sehen jetzt erst vieles mit etwas anderen Augen an.“

Die letzten Luftangriffe

Über dem Norden Deutschlands wurden weiterhin Bomben abgeworfen. In der Nacht auf den 3. Mai schreckte ein Vollalarm viele Flensburger aus den Betten. Sie zogen sich schnell an und eilten in den Keller, begleitet vom Getöse der Flak. „Da sie mit Leuchtmunition schossen, bot der Himmel ein wunderbares Bild, aber es war unheimlich“, meinte ein Zeitzeuge. Ungefähr 15 britische „Mosquitos“ beteiligten sich an diesem Angriff. Vier Sprengbomben schlugen vor dem Kasernentor in Mürwik ein, wobei eine Luftwaffenhelferin und sechs Soldaten starben. Alle anderen 49 Opfer dieses Luftangriffs waren Zivilisten, darunter 20 Kinder. Allein 32 Menschen starben bei einem Einschlag in ein Hilfskrankenhaus an der Schleswiger Straße. Sieben Wohngebäude wurden total zerstört, 106 Flensburger wurden obdachlos. Am 4. Mai 1945 folgte ein letzter Luftangriff auf den Flugplatz. Inzwischen war Flensburg zum Sitz der NS-Regierung ernannt worden …

Text: Jan Kirschner 
Titelfoto: Stadtwerke Flensburg

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