In unserer Serie „Flensburger Straßen und Stadtteile“ bitten wir Zeitzeugen, uns von ihren ganz persönlichen Erinnerungen zu berichten.
In dieser Ausgabe hält Angelika Köth, Jahrgang 1946, Rückblick.
Angelika Köth kam in der Töpferstraße 8 zur Welt. Diese ehemalige Straße in der südlichen Altstadt von Flensburg aber gibt es längst nicht mehr! Sie musste in den 1960er Jahren dem Rathaus-Neubau weichen. Die Töpferstraße lag am Ende der Roten Straße am Roten Tor und verlief aus Richtung des Klosters zum Heiligen Geist bis zum heutigen Parkplatz rechts vor dem Rathaus. Das bereits im Jahre 1874 abgebrochene Rote Tor (Rude Tor) begrenzte die Stadt Flensburg nach Süden. Man gelangte von der Töpferstraße (auch Pottenmagergade genannt) durch das Rote Tor zur Rude. Rude bedeutet so viel wie gerodeter Wald und ist Namensgeber für das ehemalige Rote Stadt-Tor und die Rote Straße. Rude/roden ist also nicht mit der Farbe Rot gleichzusetzen!
Angelikas Mutter Elvira, geb. Wiemann, Jahrgang 1923, war eine sehr junge, schöne Frau. Sie lebte in der Töpferstraße 8, in bescheidenen Verhältnissen. Als sie Angelikas Vater 1945 wenige Tage nach Kriegsende kennenlernte, war sie seit einigen Monaten Kriegerwitwe und stand mit ihren beiden Kindern Udo und Karin allein da! Drei Kinder von drei verschiedenen Männern hatte sie bereits zur Welt gebracht – wobei ihr zweites Kind im Säuglingsalter verstorben war.
Und hier beginnt Angelikas Geschichte
1950: Umzug in die Waitzstraße
Nach Angelikas Geburt wurde es für die fünfköpfige Familie Tamm zu eng in der Töpferstraße 8, aber der Umzug in das von den Behörden zugewiesene Zimmer mit Küchen- und Toilettenbenutzung in der Waitzstraße 55 b verbesserte die Wohnsituation nicht. Schlimmer noch: Die Tamms waren zur Untermiete einquartiert worden.
Angelika kam 1952 auf die Löhmann-Schule. Ihr täglicher Schulweg führte sie gefühlte 30 Minuten bergauf und bergab über Feldwege dorthin. Sie erinnert sich heute noch an die vielen bunten Blumen, die im Sommer am Wegesrand standen. Es war für sie eine schöne Zeit. Fleißige Kinder wurden von der Lehrerin mit dem begehrten „Gänselieschen“ belohnt. Das waren kleine bebilderte Heftchen mit Texten.
1952: Aus der Untermiete ins Barackenlager Kielseng
Mutters Proteste bei den Wohnungsbehörden gegen die unerträgliche Enge, mit fünf Personen zur Untermiete in einem Zimmer hausen zu müssen, führten erst nach zwei langen Jahren zum Erfolg. Familie Tamm bekam die Genehmigung, die vordere Baracke an der Swinemünder Straße (Barackenlager Kielseng) zu beziehen. In diesem Barackenkomplex war während der Nazizeit ein Müttergenesungsheim untergebracht. Auf diesem Gelände baute später die Bundeswehr ein U-Heim für Marinesoldaten. Als die Tamms Einzug hielten, regnete es überall rein. Um die Barackenräume für die Familie bewohnbar zu machen, musste der Vater all sein handwerkliches Talent einsetzen. Das tat er gern, denn nun hatte die Familie endlich Platz! Sannu war als guter Handwerker so gefragt, dass er sehr schnell den Hausmeisterposten für das ganze Barackenlager übernehmen konnte.
1955: Umzug in die Swinemünder Straße und Umschulung auf die Osbekschule
In der Swinemünder Straße waren der Bäcker Rerup mit seiner Backstube und der kleine Fischladen zu Hause, bei dem Angelika Fischköpfe für ihre Katze bekam. Gleich um die Ecke in der Mürwiker Straße war damals schon Bäcker Hansen, bei dem es die leckersten, selbstgebackenen Teigwaren gab. Mutter Elvira hat morgens Brötchen ausgetragen. Angelikas Vater war nicht nur ein guter Handwerker, der die Schuhe der Familienmitglieder besohlte und eine Wäscheleine auf Rollen konstruierte, über die er die Wäsche zum Trocknen nach draußen führte. Er konnte auch am Küchenherd aus Nichts etwas machen. Angelika erinnert sich an seine von den Kindern heiß geliebte „Morgenröte“ aus 4 Eiweiß, Zucker und rotem Johannisbeersaft. Für die Zubereitung musste die Kurbel des sperrigen Sahneschlägers so lange und so schnell gedreht werden, bis sich die Masse zu einem Berg auftürmte. Dazu gab es Vanillesoße mit dem verbliebenen Eigelb. Ein Highlight war die luftig geschlagene Sahne von Bäcker Hansen. Die gab es portionenweise schon ab 50 Pfennige!
März 1955: „Berichtigender Beschluss vom Amtsgericht Flensburg auf Änderung des gefälschten Familiennamens Tamm auf Freymuth“
Angelikas Vater, Sannu Tamm hatte sich unter Vorlage seines Personalausweises, (ausgestellt am 2. Januar 1953) bei den Stadtwerken in Flensburg für eine Lehrstelle als Elektriker beworben. Bei genauerer Überprüfung der Papiere hatte die Personalabteilung allerdings herausgefunden, dass es sich bei Tamms persönlichen Daten um Fälschungen handelte. Die Flensburger Behörden hatten die in Tamms „Vorläufigem Fremdenpass“ bereits gefälschten Daten anstandslos für den neuen Personalausweis übernommen. Nicht einmal auf dem Standesamt anlässlich Tamms Eheschließung mit Elvira waren die Fälschungen aufgefallen. Wie sich auch herausstellen sollte, war Alexander Freymuth, so war sein wirklicher Name, nicht in Reval, sondern in Fellin/Estland geboren! Für die damals 9jährige Angelika war die Richtigstellung ihres Familiennamens von Tamm auf Freymuth durch das Amtsgericht Flensburg keine große Sache. Jetzt hieß sie mit Nachnamen Freymuth. Ebenso wie Vater und Mutter! Trotz dieser spät aufgedeckten Urkundenfälschung konnte Alexander Freymuth seine dreijährige Lehre als Elektriker bei den Stadtwerken abschließen. Angelika hat von ihren Eltern nie die Wahrheit über die gefälschte Identität ihres Vaters erfahren. Heute könnte sie sich vorstellen, dass dieses Geheimnis mit seiner SS-Zugehörigkeit zusammenhängt, aus der er sich in den Nachkriegswehen retten wollte.
1957/58 Umzug in die neue Wohnung, Schwarzental 11
Als gelernter Elektriker hatte Angelikas Vater eine Anstellung bei den Stadtwerken und eine Wohnung im Schwarzental 11 bekommen. Und wieder sah er seine Aufgabe darin, die heruntergekommene Wohnung von Grund auf zu renovieren. Für Angelika bedeutete der Umzug von Mürwik in die Nordstadt auch die Umschulung zur Waldschule bis zu ihrem Abschluss. Beim 25. Klassentreffen war Lehrer Zarbock noch anwesend – das 50. hat im Jahre 2011 stattgefunden!
Ostern 1961 begann Angelika ihre Lehre zur Einzelhandelskauffrau im Kaufhaus Hägin
Das Kaufhaus Hägin am Holm war ehemals Woolworth. Geschäftsführer Hagemeister war Angelikas Lehrherr. Angelika landete von der Schulbank direkt an der Ladenkasse mit Kurbel und Klingelgeräusch. Das war für sie wie ein „Sprung ins kalte Wasser“, der ihr heute noch in den Knochen steckt. Das damals knapp 15jährige Fräulein Freymuth war plötzlich verantwortlich für den ihr zugewiesenen Verkaufsbereich und Kassieren von Schulheften, Damenhandtaschen aus Kunstleder mit verschnörkelten Metallbügeln und Koffern. Die Registrierkasse zählte nur bis D-Mark 99,99. Wenn die Kaufsumme über diesem Betrag lag, musste sie gesplittet werden. Auch Reparaturen wurden entgegengenommen. So kam es oft vor, dass Angelika Koffer und Taschen ineinander steckte, um sie über den Holm und Große Straße zum Sattler zu bringen. Die Werkstatt befand sich in einem Hof am Nordermarkt. Während der Schlussverkaufswochen standen die Kunden schon am frühen Morgen in Schlangen vor der Ladentür. An diesen Tagen war die Mittagspause von 90 auf 30 Minuten verkürzt. Bei besonderen Anforderungen wie Inventuren spendierte der Chef seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Mittagessen im Speisehaus Johansen. Dieser beliebte Mittagstisch befand sich in der ersten Etage eines Mehrfamilienhauses im Hinterhof am Holm, in der Nähe von Fisch-Funke. Die Straßenbahn fuhr zweigleisig mitten durch die Innenstadt. Es gab zwei Bürgersteige, an denen munter geparkt und be- und entladen wurde. Die Anbindung vom Schwarzental zum Holm war für Angelika perfekt. Wenn sie das Geld für eine Monatskarte nicht von ihrem Lehrlingsgehalt (1. bis 3. Lehrjahr D-Mark 70,00, 90,00 und 110,00) abzweigen konnte, lief sie den Weg zweimal am Tag zu Fuß. Angelika war zur Sparsamkeit erzogen. Ihr Vater hatte ihr eine mit Tapeten beklebte 60 x 80 cm große Aussteuerkiste gebaut, in der sie vom Putzlappen und Feudel über Tisch- und Bettwäsche bis zu Kochtöpfen, Geschirr und Bestecke aufbewahrte. Wenn es Geschenke gab, so erinnert sich Angelika, waren es meistens nur praktische Dinge für später!
Marinesoldaten, Tanzmusik aus der Musikbox und Coca-Cola
Marinesoldaten in schmucken Uniformen prägten das Bild der Innenstadt. In den Diskotheken war immer etwas los. Tanzmusik vom Band spielte schon am frühen Abend. Schließlich mussten sich die Soldaten pünktlich am Kasernentor wieder zurückmelden. Angelika lernte ihren zukünftigen Ehemann, den Obergefreiten Gerhard Köth aus Neubrandenburg, am 27. Juli 1964 in der Diskothek „Um de Eck“, heute Porticus, beim Tanz kennen. Zwei Jahre später ließ sich das Paar in der Petri-Kirche trauen! Beide waren noch sehr jung – 19 und 21 Jahre! Ihre erste Wohnung hatten sie in Kauslund in einer 1 ½ -Zimmerwohnung zur Untermiete mit Küchen- und Badbenutzung. In Flensburg herrschte immer noch Wohnungsnot. Um ihre Eltern zu besuchen, legte Angelika den Weg von Kauslund nach Schwarzental mit dem Kinderwagen zu Fuß auf Stöckelschuhen zurück. Dafür brauchte sie zwei Stunden. Kaum hatten sich Gerhard und Angelika ihr erstes Auto, einen hellblauen VW-Käfer FL-P 91 angeschafft, da haben sie ihn auch schon wieder verkauft. Ihr zweites Kind war unterwegs. Sie brauchten das Geld für ihre erste Waschmaschine, eine Candy mit Guckloch. Vorher musste die Wäsche in einem großen Topf auf dem Kohleherd zum Kochen gebracht und auf dem Waschbrett per Hand gewaschen werden! Ab 1974 hat Angelika ihren Beruf als Einzelhandelskauffrau in unterschiedlichen Branchen wieder aufgenommen – bis zur Rente! Nachdem für ihren Mann die Zeit als Zeitsoldat beendet war, ließ er sich als zivilangestellter Elektriker für Haustechnik vom Bund übernehmen.
Angelika und Gerhard haben am 28. Januar 2016 ihre Goldene Hochzeit gefeiert. Ein Jahr später – an seinem 72. Geburtstag, ist Gerhard Köth verstorben.
Das Gespräch mit Angelika Köth führte Renate Kleffel